There’s a party going on…
Dieser Tage feiern die Römischen Verträge ihren 60. Geburtstag. Ganz schön alt! Aber zum Glück gab es ja mit sieben Erweiterungsrunden und sechs Vertragsrevisionen einige Frischzellenkuren für die Europäische Union.
Zeit, sich zu überlegen wohin die Reise gehen soll, dachte die Kommission und veröffentlichte ein Weißbuch zur Zukunft der EU. Warum das zwar technisch klingt, aber uns alle interessieren sollte, lest ihr hier.
Worum geht’s denn eigentlich?
Die Römischen Verträge begründeten 1958 die heutige Europäische Union. Sie wurden von Deutschland, Frankreich, Italien und den BeNeLux.Ländern unterzeichnet. Drei Gemeinschaften wurden errichtet: Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), EURATOM und die schon bestehende Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (hier der Artikel zu Jean Monnet) bekamen eine gemeinsame parlamentarische Versammlung, einen Gerichtshof und einen Wirtschafts- und Sozialausschuss.
Und nu’?
60 Jahre sind eine Zeit, wo man sich schon mal Gedanken machen kann, wo es im Leben so hingehen soll. Und so hat die Europäische Kommission, sozusagen als Geburtstagsgeschenk, ein Weißbuch vorgelegt. Gut, vielleicht nicht ganz so schön wie ein leckerer Kuchen (den gab’s allerdings auch) oder ein neues Fahrrad. Dafür aber eine Möglichkeit sich neu zu finden: Sozusagen ein Selbsterfahrungstrip für die Mitgliedsstaaten und Institutionen.
Diese Reise zu sich selbst findet natürlich nicht im luftleeren Raum statt. Und die Kommission nimmt eine ehrliche Analyse vor, wo Europa eigentlich steht: Angefangen damit, dass es auf einmal in manchen Teilen der Welt wieder en vogue ist, sich isolationistisch zu geben. 2060 werden nur noch 5% der Weltbevölkerung in Europa leben. Interaktion mit der Welt ist für uns aber so wichtig wie für wenig andere Regionen: Aus Gründen des Handels, aber auch unseres Selbstverständnisses. Das zeigt sich zum Bespiel bei der Arbeit oder im Urlaub: Europäer reisen gern und viel. Dies führt gleich zum nächsten Thema:
Dass offene Grenzen sich zwar selbstverständlich anfühlen, es aber nicht sind, haben wir im Zuge der Migrationskrise gesehen. Und auch die Gründe für Migration werden vielfältiger werden: Neben Kriegen, Armut und Hungersnöten wird die Klimamigration ein wichtiger Faktor werden. Europa steht also inmitten der Megatrends der demographischen Entwicklung, der Urbanisierung und der Digitalisierung. Chancen durch eine Entgrenzung von Ländern, Arbeit und Informationen führen aber auch manchmal dazu, sich schlicht überfordert zu fühlen — ein guter Nährboden für Populismus. Die Chancen richtig zu nutzen und einen Dialog mit den Menschen zu führen, der diese auch erreicht — diese wichtige Schlussfolgerung zieht die Kommission.
Was kann ich tun?
Wählen. Zwischen fünf Szenarien. Mitdiskutieren. Hier aber erst einmal ein Überblick über das Menü, das die Kommission zusammengestellt hat:
Szenario 1: Weiter wie bisher.
Was man sich darunter vorstellen kann: Was der Name sagt: Weiter wie bisher. Voraussetzung wäre allerdings, dass man sich einig wäre über das “weiter”. Denn in diesem Szenario steckt auch, dass wir erhalten, was wir haben. Und dazu benötigen wir einen europäisierten Außengrenzschutz und einige Überlegungen, wie der Euro krisensicher gemacht werden kann. Ganz oben in dieser Option steht daher auch unsichtbar das Wörtchen “Solidarität”.
Was heißt das konkret: Erst einmal keine großen Sprünge — weder vorwärts noch rückwärts. Wir können weiter frei reisen, der Euro bleibt Zahlungsmittel. Vielleicht gibt es auch in diesem Szenario eine gemeinsame Armee. Verändern würde sich aber nicht viel — das Szenario also für Besitzstandswahrer.
Was nicht geschehen sollte: “Weiter wie bisher”, weil man sich auf nichts anderes einigen kann. Denn das bedeutet, dass es eben keinen Konsens gibt für ein “weiter so”. Die EU würde permanent Erwartungen enttäuschen, einfach weil ihr die Basis für gemeinsame Entscheidungen fehlt.
Szenario 2: Schwerpunkt Binnenmarkt.
Was man sich darunter vorstellen kann: Markt, Handel, Wirtschaft. Wir beschränken uns auf diesen Fokus, die EU wird ein rein regulatorisches Gebilde. Dazu müsste ein Rückbau in anderen Politikbereichen, z.B. Außen- oder Innenpolitik erfolgen. Kooperation in anderen Politikbereichen würde bilateral oder in Gruppen, jedenfalls außerhalb des Rahmens der EU, erfolgen.
Was heißt das konkret: Es wird unübersichtlich. In Frage steht die Gemeinsame Außenpolitik, ebenso wie offene Grenzen. Aber: Vielgescholtene Regelungen über Gurkenkrümmungen bleiben bestehen — denn die gibt es genau wegen des Binnenmarktes.
Was nicht geschehen sollte: Dass wir in den Bereichen zurückgehen, in denen wir eigentlich gern kooperieren. Ich habe zum Beispiel noch nie jemand über Erasmus-Stipendien schimpfen hören. Und auch zur Mogelpackung darf dies nicht verkommen: Binnenmarkt ohne Euro? Falls doch, müsste die Währungsunion trotzdem reformiert werden. Sprich: Dies wäre der Brexit light für alle Mitgliedsstaaten.
Szenario 3: Wer mehr will, tut mehr.
Was man sich darunter vorstellen kann: Das Szenario kombiniert das “Weiter wie bisher” mit einer (oder mehreren) Koalition(en) der Willigen, die in Politikfeldern vorangehen. Die Kommission nennt vor allem Verteidigung, aber auch den Bereich Polizei und Inneres. Steuern und Sozialpolitik wären weitere Felder. Was nicht vorgesehen ist: Das Mitgliedsländer auch weniger machen können, als bislang vereinbart wurde
Was heißt das konkret: Für die, die weitermachen wie bisher, ändert sich nichts. Für diejenigen, die sich zu mehr Kooperation entscheiden, geht die Integration weiter. So könnten die Eurostaaten eine engere Wirtschaftsunion eingehen, Deutschland, Frankreich, Polen, Italien und die baltischen Staaten einigen sich auf eine Verteidigungszusammenarbeit. Sprich: Die unterschiedlichen Interessen führen dazu, dass Staaten mal mehr, mal weniger integriert sind. Wahrscheinlich würde dies ohnehin passieren, auch wenn man sich für ein “Weiter so” entscheidet — denn die EU arbeitet bereits seit Jahren nach diesem Prinzip.
Was nicht geschehen sollte: Das Politiken nicht mehr zusammenpassen und Legitimität verloren geht. Rosinenpicken bis zu einem gewissen Grad ist ok — aber es funktioniert halt nicht, dass jemand Geld aus dem Strukturfonds erhält, aber nicht ins Budget einzahlt, um ein extremes Beispiel (das so nicht auftreten wird!) zu wählen. Eine weitere spannende Frage wäre, wie das Parlament zu beteiligen ist: Sollen dänische Abgeordnete auch darüber abstimmen können, wie die Eurostaaten zusammenarbeiten, auch wenn das Land den Euro nicht eingeführt hat? Was ist dann die Alternative?
Szenario 4: Weniger, aber effizienter.
Was man sich darunter vorstellen kann: Die EU konzentriert ihre Energien auf bestimmte, ausgewählte Gebiete. In diesen — z.B. Migration, Terrorismusbekämpfung — verstärkt sie ihre Aktivitäten. In anderen Bereichen beschränkt sie dafür ihr Engagement, z.B. bei gemeinsamen Umwelt- oder Arbeitsstandards. Das Stichwort heißt: Strikte Subsidiarität. Passt irgendwie auch zusammen mit Juncker’s Spruch vom “Groß in großen, klein in kleinen Fragen.”
Was heißt das konkret: Man muss sich einigen, was allen gleichermaßen wichtig ist. Das ist dann der Kernbereich der EU — darüber hinaus können natürlich weiterhin Koalitionen entstehen. Die können sich dann allerdings nicht so gut ausbalancieren — denn mancher Staat schluckt bislang auch in einem Bereich eine Kröte, weil er woanders etwas Positives erhält.
Was nicht geschehen sollte: Dass jedem etwas anderes wichtig sein wird. Genau das würde aber wahrscheinlich passieren.
Szenario 5: Viel mehr gemeinsames Handeln.
Was man sich darunter vorstellen kann: Viel mehr EU — es geht mit raschen Schritten in Richtung Bundesstaat, und zwar im gleichen Tempo mit allen Mitgliedsstaaten. In allen Bereichen, in denen die Länder es für sinnvoll erachten, arbeiten sie nun eng zusammen, koordiniert oder gesteuert durch die EU. Erwartungslücken schließen sich — zum Beispiel in der Arbeitsmarktpolitik, wo zwar für viele Menschen Sorgen bestehen, die EU aber letztlich wenig Kompetenzen hat (http://in-common.de/traeume/). Die Politik rückt aber auch weiter vom Bürger weg; Legitimität, Demokratie und Partizipation werden noch wichtiger.
Was heißt das konkret: Eine gemeinsame Außenpolitik, eine gemeinsame Verteidigungspolitik, eine gemeinsame Wirtschaftspolitik und damit verbunden Beschäftigungspolitik — das wären wohl die größten Baustellen. Europa wird mächtiger, und unser Fokus geht eines Tages nicht erst nach Paris, Rom, Berlin oder Athen, sondern nach Brüssel.
Was nicht geschehen sollte: Europa macht alles. Es ist ja sinnvoll, dass Politik auf der Ebene gemacht wird, auf der sie am sinnvollsten dem Wohle der Bürger dient. Dogmatische Lösungen, die nicht auf die veränderten Anforderungen unserer Zeit eingehen, sind wohl eher Teil des 20. Jahrhunderts!
Und wie geht’s jetzt weiter?
Jetzt wird erst mal diskutiert. Unter diesem Link kann jeder seine Stellungnahme abgeben. Gleichzeitig wird es weitere Papiere der Kommission geben, zum Beispiel zu einem sozialen Europa und zur Gestaltung der Globalisierung. Auch bei diesen wird man mitdiskutieren können. Und es gibt öffentliche Veranstaltungen, bei der jeder mitdiskutieren kann. Am Besten Augen und Ohren über die jeweiligen Kommissionsvertretungen aufhalten.
Zu guter Letzt:
In den vergangenen Jahren sind einige Entscheidungen gefallen, die unser Leben stark beeinflussen werden: BREXIT, Wahlen in zahlreichen Ländern, Richtungsentscheidungen, die die Politik vorgenommen hat wie in der Eurokrise. Wenn wir aber nicht Zuschauer in unserem eigenen Leben sein wollen, müssen wir uns entscheiden, uns einbringen. Dies geht mit viel, aber auch mit vergleichsweise wenig Aufwand, indem man sich positioniert, wählen geht, sich informiert. Alles um uns herum ist Politik. Wir sollten die Chance nutzen, unser Leben so zu gestalten, wie wir es leben möchten — die Zukunftsentscheidung über die EU wird darauf einen großen Einfluss haben.